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Filmkritik: "Ein ganzes halbes Jahr" (2016)

"Ein ganzes halbes Jahr" – Kritik aus der Sicht eines Rollstuhlfahrers

Neben der Leidenschaft fürs Reisen, für deutsche Sprache und für den Einsatz für die Rechte der “Behinderten” (Ich finde dieses Wort ganz schlimm!), bin ich auch ein reger Kinogänger und interessiere mich für Filme, egal ob Kult oder brandneu.

Mein großes Vorbild, in dieser Beziehung, ist der Filmkritiker und YouTuber Robert Hofmann. Mir am Wochenende seine Videos anzuschauen, ist zu einem Ritual geworden. Da ich aufgrund meines nun doch deutlich erkennbaren Sprachhandicaps keine Videos ins Internet stellen möchte, mir allerdings das Beurteilen von Filmen große Freude bereitet, mache ich es eben schriftlich. Ich habe mich dafür entschieden, zuerst eine Kritik zum Film “Ein ganzes halbes Jahr” zu schreiben, weil:


1. Ich das Buch unglaublich toll fand und danach nur noch sehnsüchtig auf den Film gewartet habe.

2. Sozialkritische Filme genau mein Gebiet sind.

3. In den letzten Wochen viel über den Film diskutiert wurde und ich einfach noch einmal meinen eigenen Standpunkt darstellen möchte.

4. Ich selber auf einen Rollstuhl angewiesen bin und daher denke, verschiedene Aspekte besser beurteilen zu können.

5. Man einen so ergreifenden Film noch einmal Revue passieren lassen muss.


ACHTUNG: SPOILER-ALARM!!! WER DEN STREIFEN NOCH NICHT GESEHEN HAT UND SICH ÜBERRASCHEN LASSEN WILL, SOLLTE JETZT NICHT WEITERLESEN!


“Ein ganzes halbes Jahr”, im Originaltitel “me before you”, geht 111 Minuten, ist ab 12 Jahren freigegeben und läuft seit Donnerstag, dem 23. Juni 2016, in den deutschen Kinos. Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans der Bestseller-Autorin Jojo Moyes.


Ich hatte die wunderbare Möglichkeit, den Film schon während der “Womans Night” im UCI Potsdam schon am Mittwoch, den 22. Juni 2016, anzusehen. Idealerweise musste ich die Veranstaltung nicht alleine besuchen, sondern konnte jemanden aus meinem neu erworbenen Freundes-und Bekanntenkreis für diese Unternehmung begeistern. Darüber freute ich mich sehr, denn das zeigte mal wieder, dass ich anscheinend gerade genau am richtigen Ort für mich angekommen war.


Der Film erzählt die Geschichte von William Traynor, gespielt vom fabelhaften Sam Claflin (Finnick Odair aus “Die Tribute von Panem”) und der im zuckersüßen Louisa Clark, gespielt von Emilia Clarke (Daenerys Targaryen aus “Game of Thrones”).


Will war in seiner Vergangenheit ein sehr sportiver und erfolgreicher Mann. Bis zu dem Tag, als er auf dem Weg zur Arbeit von einem Motorrad erfasst wird. Seitdem ist er Tetraplegiker, das bedeutet, das keine Bewegung der Beine und des Oberkörpers mehr möglich sind, lediglich einzelne Finger kann er noch bewegen. Dieser Lebensumstand macht ihn depressiv und fast immer schlecht gelaunt. Nach dem Unfall verließ ihn seine Freundin. Jetzt sind seine einzigen Kontakte seine Eltern und sein Physiotherapeut/Pfleger/Freund Nathan, gespielt von Steve Peacocke. Will Traynor verlässt kaum mehr das Haus.


Zwei Jahre später kommt Louisa Clark ins Spiel und an dieser Stelle setzt der Film ein. Sie hat gerade ihren geliebten Job in einem kleinen Café unweit ihres Elternhauses verloren. Der Vater, gespielt von Brendan Coyle, ist arbeitssuchend, die Mutter, gespielt von Samantha Spiro, ist Hausfrau und muss sich um Louisas Großvater kümmern. Ihre Schwester Katrina, gespielt von Jenna Coleman arbeitet in einem Blumenladen, wo das Gehalt nur sehr knapp reicht, um sich und ihren kleinen Sohn Thomas durch zu bringen. Lou weiß außerdem, dass Trina eigentlich wieder studieren möchte. Also begibt sie sich sofort wieder auf Jobsuche. Ihr Freund Patrick ist für sie keine große Unterstützung, denn er ist Leistungssportler und fast ständig unterwegs. Für viele andere Dinge ist kein Platz in seinem Kopf.


Nachdem weder Kosmetikerin, noch die Arbeit in einer Hühnchenfabrik klappen will, verzweifelt Louisa beinahe. Mit ihrer schrillen Kleidung und ihrer Fröhlichkeit passt sie einfach nicht überall hin.


Als ihr ihr Berater einen Job mit der Beschreibung “Pflege und Gesellschaft für Mann mit Behinderung” anbietet und ihr zu verstehen gibt, dass das so ziemlich ihre letzte Chance sei, ergreift sie die Gelegenheit und erhält den Job nach einem Vorstellungsgespräch sogar. Ein Job für sechs Monate, also ein halbes Jahr.


Lou und Will verstehen sich anfänglich nicht gut, sie fröhlich, schrill und aufgedreht, er still, bewegungsunfähig und melancholisch gestimmt. Nach einer gewissen Zeit nähren sich die beiden einander an, schauen zusammen Filme, gehen an der frischen Luft auf der großen Burg, die der Familie gehört und lachen viel zusammen.


Eines Tages bekommt Louisa, eher durch Zufall, ein Gespräch von Will´s Eltern mit. Daraus geht hervor, dass er in die Schweiz fahren möchte, um dort sein Leben medizinisch zu beenden. Lou hört auch, dass seine Eltern ihn dabei unterstützen möchten.


Sie ist völlig schockiert und bestürzt, möchte am liebsten sofort kündigen, doch die Familie braucht das Geld. Aus ihrer Bestürzung wird ein starker Wille. Was ist, wenn es einen Weg gibt, ihn vom Gegenteil zu überzeugen? Sie plant Ausflüge, einige sind ein absoluter Reinfall, andere einfach fantastisch. Die beiden lernen sich besser kennen, Will kommt aus seiner metaphorischen Mauer hervor, die ihn von allem abgeschirmt hat. Aber auch Lou verändert sich, sie ist die meiste Zeit bei Will, ihre Interessen sind jetzt weit gefächerter, sie fühlt sich wieder wie eine richtige Frau, da Will immer für sie da ist. Schließlich beendet sie auch die Beziehung mit Patrick. Auch Will´s damalige Freundin heiratet, dann auch noch seinen ehemaligen besten Freund Rupert, gespielt von Ben Lloyd-Hughes. Trotz der mittlerweile guten Stimmung zwischen Will und Lou, ist Will doch oft krank, hat sogar eine Lungenentzündung und starke Schmerzen.


Der Höhepunkt der Geschichte ist ein traumhafter Urlaub am Meer, mit Privatflugzeug und anderem Luxus. Die drei (Will, Louisa, und Nathan) haben eine wunderschöne Zeit. Lou und Will sind sehr verliebt ineinander und trotzdem gesteht er ihr, dass er sein Leben beenden möchte und dass auch sie ihn nicht davon abbringen kann. Für Louisa bricht eine Welt zusammen. Muss man ihn verstehen oder handelt er viel zu egoistisch?


Nachdem sie wieder zu Hause gelandet sind, flüchtet Louisa sofort zu ihrer Familie und verfällt in eine tiefe Trauer.


Am Ende des Films informiert ihre Schwester sie darüber, dass Will und seine Familie jetzt auf dem Weg in die Schweiz sind und überredet sie, dort hinzufliegen, um bei ihm zu sein. Die Zeit ist gekommen, sich voneinander zu verabschieden …


Obwohl sich beide nur ein halbes Jahr kannten, hat Will Louisa nach seinem Tod viel hinterlassen. Von dem Geld soll sie sich ein neues, freieres Leben aufbauen.


Die letzte Kameraeinstellung zeigt, Louisa Clark in einem Café in Paris sitzend.


Fazit: Ich kann verstehen, dass es viele verschiedene Meinung zu diesem Film gibt. Aber hier zunächst das Positive: Es macht viel Spaß, Emilia Clarke zuzusehen, mit ihrer schrillen Art und ihrer bunten Kleidung verteilt sie gute Laune im ganzen Kinosaal. Das Ganze wirkt authentisch und nicht zu überladen. Auch Sam Claflin ist in seiner Rolle gut angekommen, die Mimik, die Stimmungen, die Sprache und die Bewegungslosigkeit wirken echt. Mein Favorit im Film Steve Peacocke als Nathan, denn er zeigt sowohl wie schön und normal das Leben sein kann, weist aber auch ganz deutlich auf die Schwierigkeiten hin, welche man in dieser Situation nun einmal hat.

Auch ich finde die Maßnahme, sein Leben auf medizinischem Wege zu beenden ziemlich drastisch und es kann sein, dass der Film an manchen Stellen zu hart ist. Aber ich bin einer anderen Situation, ich kenne mein Leben nicht anders und es ist gut so wie es ist. Auch als Querschnittgelähmter, der aber den Oberkörper noch komplett normal bewegen kann, gibt es viel mehr Möglichkeiten. Doch wenn man ein sehr sportiver Mensch war, mit Erfolg im Beruf, und dann urplötzlich nicht mal mehr alleine auf die Toilette gehen kann oder sich die Haare aus dem Gesicht machen kann, dann kann ich schon verstehen, dass die Lebenslust manchmal verloren geht. Ist man dazu noch von einem sturen Charakter geprägt, gibt es fast nichts, was einen von einer Idee abbringen kann.


Zu aller Bewegungsunfähigkeit hatte Will Traynor auch noch große Schmerzen. Wenn all das urplötzlich passiert, ist es manchmal eben nicht möglich, sich alles schön zu reden. Damit will ich nicht sagen, dass ich seine Handlung gut heiße, aber ich kann sie in seiner Situation verstehen. Auch wenn das Leben ein Geschenk ist, welches man nutzen sollte. Die Frage ist, was ist besser: Den Zeitpunkt seines Ablebens selbst bestimmen zu können oder bei einer Lungenentzündung langsam zu ersticken?

Für mich ist Will Traynor nicht unbedingt ein Feigling.

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